Unsere Wahrnehmung der Vergangenheit besteht, wie Schmoeckel pessimistisch feststellt, aus riesigen schwarzen Ozeanen des Nichtwissens, aus denen üblicherweise nur ein paar hell beleuchtete Inseln herausragen: Ägypten, Griechenland...
Ungefähr gleichzeitig mit den Minoern traten Ende des neunzehnten Jahrhunderts die Hethiter ins Dämmerlicht der Wissenschaft. Die beiden waren zumindest teilweise Zeitgenossen; es muss wohl auch Kontakte gegeben haben. Ebenso wie diese sind jene spurlos verschwunden und waren in der Zeit, die unser europäisches klassisches Geschichtsverständnis prägte, nicht existent. Aber die Rezeption der beiden Kulturen durch das 20. Jahrhundert könnte verschiedener kaum sein.
Die Minoer auf Kreta, die wahrscheinlich keine Indoeuropäer waren und die uns keine relevanten oder entzifferbaren Schriftzeugnisse hinterlassen haben, wurden seit Evans als die "ersten Europäer" in Beschlag genommen. Die Hethiter, mit indoeuropäischer Sprache und entzifferter Schrift, auf heute türkischem Boden, haben die höchsten Weihen Europas noch so wenig erhalten wie die Türkei die EU-Mitgliedschaft.
2002 gab es in Bonn eine Ausstellung über die Hethiter. Der schwergewichtige Katalog hat es mir erlaubt, einen gründlichen Blick über den Zaun zu werfen: Sage und schreibe 43 Aufsätze über Historie, Staat und Gesellschaft, Religion und Kult, Stadtformen, Kunst, Aussenpolitik und Verfassung gaben einen sehr gründlichen Einblick in diese mir fremde Welt.
Auch wenn der Katalog kaum auf Kreta Bezug nimmt (mehr schon auf Mykene), gab er mir einen Eindruck, wie nahe oder entfernt diese beiden Zivilisationen einander waren. Zusammengefasst: Die Minoische Kunst ist hinreißend schön und die weitgehende Abwesenheit von Schrift verleiht ihr etwas Rätselhaftes. Die hethitische Kunst empfinde ich als viel klobiger, gar nicht anmutig. Dagegen sind die erhaltenen Texte von bestechender Vernünftigkeit und argumentativer Eleganz. Es gibt eine Verfassung, Staatsverträge und internationale Korrespondenz.
Bewertung: Das Buch ist sein Geld wert: Wer einen ersten Einblick und Überblick über das "Volk der 1000 Götter" bekommen möchte, ist damit sehr gut bedient. Und nachdem ich mich durch den drei Kilogramm schweren Katalog hindurchgearbeitet habe (was zugegebenermaßen mehrere Anläufe gekostet hat) sind mir Hattusili, Suppiluliuma, Mursili und Arnuwanda schon ganz ans Herz gewachsen. ©Hajo v. Kracht, 10. Februar 2005
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