Ich fand die These auf den ersten Blick interessant und ansteckend unkonventionell: Eine Schrift, die anscheinend im Aneinanderreihen einfachst strukturierter Konsonant-Vokal-Silben besteht ([J]a-Sa-Sa-Ra-Me, Da-Ma-Te usw.), ist doch vielleicht für eine Sprache konstuiert worden, die auch irgendwie so ist. Da-Ma-Te ist ein lustiges Beispiel, wie man von "Demeter" bis "[Rha]damanthys" alles Mögliche in diese drei Linear-A Silben hineingeheimnissen kann, wenn man annimmt, dass eine indoeuropäische Sprache damit niedergeschrieben wird, die diesen Strukturgesetzen eben nicht entspricht.
Deshalb habe ich Campbell-Dunns Buch interessiert in die Hand genommen. Ich muss gleich sagen, dass ich bereits nach dem ersten Dutzend Seiten total enttäuscht war. Dieses Gefühl hat sich auch beim weiteren Durchkämpfen durch den Text nicht gebessert. Vor allem deshalb, weil ich glaube, dass der Autor möglicherweise einen Zipfel der Wahrheit in der Hand hält (vielleicht auch nicht), dass er seine Sache aber in Grund und Boden argumentiert, indem er in schlechtestem Stil jedes windelweiche Indiz als einen schlagenden Beweis ausgibt. Mehrfach bemüht er - nach Aneinanderreihung einer Vielzahl nicht-zwingender Indizien - den klassischen pseudowissenschaftlichen Schlusssatz "Ja kann das alles Zufall sein?".
Um das klarzustellen: Campbell-Dunn ist Linguist, studierte bei Chadwick und promovierte über Herodot. Er weiß wovon er redet. Und nachdem er im ersten Drittel des Buches in einem Rundumschlag "afrikanische Antworten" auf alle möglichen offenen Fragen erteilt hat (ohne Belege zu liefern oder sich sonstwie mit Details aufzuhalten), entfaltet er im Hauptteil des Buches eine große Fülle an Fakten, welche überraschende strukturelle Ähnlichkeiten zwischen Linear-A (der vermuteten Sprache, aber auch den Schriftzeichen) und verschiedenen afrikanischen Sprachen und Schriftsystemen belegen. Diesen zweiten Teil des Buches finde ich beeindruckend, ohne dass ich - der ich keine Ahnung habe von den angeführten afrikanischen Sprachen - wirklich beurteilen kann, wie tragfest Campbell-Dunns Aussagen sind.
Im dritten Teil des Buches wendet der Autor seine Erkenntnisse auf die ausgegrabenen Linear-A Fundstücke an. Hier verliert er mich wieder völlig. So führt er selbst weiter vorne im Buch (S.79) ein Beispiel für die Mehrdeutigkeit der Linear-A Silben an: "Pa (=ba) could be bà 'big', bá 'lizard', bà 'mat', ba 'storehouse', bá 'father', bà 'count', bà 'swamp' for example. Not to mention ambiguity due to the script: Pa (=pa) could be pa 'be full', pá 'grass, bush', pá 'divination', and so on. We are very dependent on material context."
Auf solch stabiler Grundlage übersetzt er jetzt etliche der kurzen, fragmentarischen Linear-A Fundstücke, wobei er sich aus einer ganzen Familie zugegebenermaßen verwandter afrikanischer Sprachen das herauslesen kann, was ihm gerade angebracht erscheint. Verblüffenderweise präsentiert er als Resultat seiner Übersetzung, dass die (lange Zeit vor der Blütezeit der Neuen Paläste) aus Afrika eingewanderten Minoer auf ihren Tontafeln immer wieder die Namen verschiedenster afrikanischer Stämme auflisten. Das ganze ergibt für mich keinerlei Sinn.
Die Art, assoziativ aufgrund von Gleichklang über Kultur- und geographische Grenzen hinweg eine "Übersetzung" zusammenzubiegen, erinnert mich stark an weniger gelungene Entzifferungsversuche des Diskos von Phaistos. Ach ja, zu diesem hat Campbell-Dunn auch etwas zu sagen: Er solle als Mondkalender gelesen werden. "This looks like a list of lucky fishing days."
PS. Bei Amazon.com ist unter dem Pseudonym "Artemesia" eine Besprechung mit dem Titel Sloppy but interesting erschienen. Dem kann ich weitgehend zustimmen.
Bewertung: Ich kann nicht ausschließen, dass Campbell-Dunns These zutrifft und Sprache und Schrift der Minoer Verwandtschaft mit bestimmten afrikanischen Systemen haben. Das müssen andere beantworten. Wenn es aber zutrifft, dann wirft diese These jedenfalls viel mehr Fragen auf als sie beantwortet. Campbell-Dunns Buch ist eher ein Musterbeispiel dafür, wie man zur Beantwortung solcher Fragen keinen sinnvollen Beitrag leisten kann. ©Hajo v. Kracht, 22. März 2007
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