Rodney Castleden, Minoans

Life in Bronze Age Crete

Gleich mit Beginn der Entdeckung der minoischen Zivilisation wurde von Arthur Evans eine komplette Interpretation des minoischen Charakters mitgeliefert: Elegant, naturliebend, friedlich, feminin, mit viel Hygiene und Toilette versehen, wirkten die Minoer ganz wie aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert entsprungene Bohèmiens. (Kenneth Lapatin hat dazu einiges zu sagen.)

In Reaktion darauf sind moderne Archäologen heute oft sehr zurückhaltend mit Interpretation und verstecken sich hinter Fakten, die leider meist nur aus Steinen und Tonscherben bestehen (z.B. Preziosi/Hitchcock).

Castleden versucht sich in diesem Buch an der Rekonstruktion des Lebens und des Charakters des minoischen Menschen - zweifellos ein gewagtes Unterfangen. Soweit ich das beurteilen kann, ist ihm dies ausgezeichnet gelungen. Er ist Wissenschaftler genug, um sich an die Fakten zu halten, und er ist Schriftsteller genug, um daraus ein buntes Bild zu malen.

Im Einzelnen gibt es sicher alles Mögliche einzwenden (so bekommt er beispielsweise wie viele andere die Chronlogie des Thera-Vulkanausbruchs und des Untergangs des vor-mykenischen Kreta nicht sauber auf die Reihe). Mein Hauptproblem ist, dass er versucht, eine Zivilisation (oder waren es mehrere?), die sich über 1800 Jahre erstreckte, als kulturelle Einheit zu zeichnen und Dinge, die man aus der Linear-B-Zeit herausgefunden hat, ungeprüft auf frühere Zeiten zu übertragen.

Das Buch ist allerdings nicht ganz einfach zu lesen: Es ist kein Krimi, der sich zu einem Finale hin steigert, sondern es behandelt Punkt um Punkt verschiedene Aspekte des bronzezeitlichen Lebens. Ein wenig Motivation und Ausdauer muss man mitbringen, wird dafür aber reichlich belohnt.