John Chadwick,
The Mycenaean World

Cambridge University Press , 1976 [@amazon]

Mit The Decipherment of Linear B gelang Chadwick ein zeitloser Klassiker, der auch heute, nach 45 Jahren, keinerlei Patina angesetzt hat. Warum merkt man dem fünfzehn Jahre später geschriebenen Buch "The Mycenaean World" sein Alter von dreißig Jahren so viel deutlicher an?

Ich glaube, es ist, weil er sich - wie er selbst im Vorwort sagt - sehr weit hervorgewagt hat, ein sinnvolles Bedeutungsmuster in die kargen, wenig inspirierenden und flüchtig in Lehmklumpen gekritzelten Verwaltungstexte aus den Palästen von Pylos, Knossos und Mykenai zu bringen, die nur deshalb zufällig erhalten blieben, weil der jeweilige Palast in Flammen stand.

Dabei ist dieser Versuch natürlich genau das, was das Buch für einen Laien wie mich interessant macht, und er führt an vielen Beispielen vor, wie sich Schritt für Schritt eine Fülle sehr konkreter Information aus den trockenen Texten herausschält. Gleichzeitig aber merkt man schon aus der Distanz von wenigen Jahrzehnten, wie wenig es Chadwick gelingt, sich bei seiner Interpretation von seinem Zeitgeist frei zu machen.

Ein Beispiel: Chadwick geht selbstverständlich davon aus, dass die mykenischen Höfe (?) straff organisierte Königreiche waren, und weil das so war, können die Verhältnisse nicht vollkommen anders gewesen sein als im Feudalsystem des mittelalterlichen England unter König Wilhelm I. Das heißt, er interpretiert immer wieder Einzelheiten auf den Tontafeln unter der Voraussetzung, dass er ja im Groben weiß, was für eine Gesellschaftsordnung bestand. Ist das aber so sicher?

Gewissenhaft notiert Chadwick selbst, dass die möglichen Titel des Königs (basileus oder wanax?) zweifelhaft sind, dass man manchmal nicht recht weiss wann mit einem Titel oder einem Namen ein Gott gemeint sein könnte, und dass insgesamt das Fehlen des königlichen Namens auffällt (was - so füge ich hinzu - auch in Mykenischer Zeit immer noch ein radikaler Unterschied zu den nahöstlichen Monarchien war, wo der Name des Königs pausenlos irgendwohin geschrieben wurde).

Bewertung: Abgesehen davon, dass einige Thesen (z.B. über die Chronologie der Thera-Eruption) erklärlicherweise nicht mehr dem Stand der Forschung entsprechen, und wenn man dem Autor verzeiht, dass er insgesamt ein Bild einer homerisch gefärbten aristokratischen Gesellschaft vor Augen hat, die in den Funden nur spurenweise belegt ist, bietet das Buch eine Fülle von sorgfältig vorgetragenen Materialien, die erfahrbar machen, wieviel wir von jener Kultur wissen und wieviel nicht. Und mit kleineren Vorbehalten möchte ich auch es in die Reihe der Klassiker einreihen, die eine Lektüre allemal lohnen.

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