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J. Lesley Fitton,
Die Minoer - Völker der Antike

Theis, 2004 [Original: Minoans - Peoples of the Past, 2002] [@amazon]

Endlich eine Gesamtdarstellung der Minoer, die sowohl den aktuellen Wissensstand wiedergibt, als auch für ein Laienpublikum lesbar ist - das war meine Erwartung, als ich anfing das Buch zu lesen.

Die Einleitung beginnt vielversprechend: nicht an Fachleute richte sich das Buch, sondern an Studenten und Urlauber, die mehr über die minoische Kultur wissen möchten. Vor allem ein Buch über Menschen solle es sein.

Dann stellt die Autorin, die am British Museum in London arbeitet, in sehr lesbarer Form die minoische Kultur in den Zusammenhang ihres Kontexts: Landschaft, Nahrungsmittel, Tierhaltung, verfügbares Rohmaterial (Steine und Metalle), und stellt sehr gut die Datierungsprobleme dar, mit denen sich Wissenschaftler seit Jahren herumschlagen. Dabei reißt sie eine Reihe spannender Themen an. Beispiel: Ladanum-Gewinnung von der kretischen Zistrose zur Gewinnung von Parfum (Myrrhe ?). Oder: Import von Kupfer aus Lavrion in Attika und Zinn gar aus Afghanistan. Hinter jedem dieser Themen steht eine Geschichte, aber hier setzt Lesley Fittons wissenschaftliches Rasiermesser an: auf keinen Fall will sie sich "in wilden Spekulationen oder haarsträubenden Interpretationen darüber ergehen".

Und so folgen auf den ersten, vielversprechenden Auftakt vier eher brave Kapitel über die Vorpalastzeit, die alten und neuen Paläste, sowie die Nachpalastzeit, die durchaus solide Information enthalten, aber zu Spekulationen und Interpretationen gar wenig anregen. In diesem - dem Hauptteil des Buches - wird die Autorin ihrem Anspruch oft nicht gerecht, von Menschen zu handeln; stattdessen bestimmen (mit Ausnahmen) Fundstücke und ihre Datierung (LM I B2 oder doch LM II A1 ?) das Bild.

Interessanter wird das Buch im Schlusskapitel über die Rezeption des minoischen Kreta. Die Mythen, die sich im antiken Griechenland um den kretageborenen Zeus, König Minos, Theseus und viele andere Gestalten rankten, sind gut, aber meiner Meinung nach bei Vassilakis besser und lebendiger dargestellt. Dass sich im 20. Jahrhundert eine neue Schicht von Mythen um das minoische Kreta herum gelegt hat, an deren Entstehung Arthur Evans großen Anteil hat, haben andere ebenfalls ausführlich beschrieben (z.B. Hitchcock/Koudounaris in Labyrinth Revisited, oder auch Lapatin). Dass aber auch moderne Künstler und Wissenschaftler (Fitton nennt Henry Miller, Evelyn Waugh, Lawrence Durrell, Michael Ayrton, George Collingwood) sich mit dem minoischen Mythos auseinandergesetzt haben, ist für mich eine neue Dimension des Themas, die sicher eine ausführliche Darstellung verdient hat.

Auffallend ist für mich allerdings, dass für einen Gesamtüberblick über das minoische Kreta zwei Dinge total unerwähnt bleiben: der Diskos von Phaistos und (im Kapitel über die Rezeption) das Thema Atlantis. Ich könnte verstehen, wenn die Autorin beiden Themen nicht viel abgewinnen kann, aber diese totale Weglassung ist doch verblüffend.

Bewertung: Insgesamt eine gute Gesamt­darstellung der minoischen Epoche. Das Buch ergänzt sich sehr gut mit Vassilakis: genau dort, wo dieses seine Stärken hat, zeigt jenes Schwächen und umgekehrt, so dass ich empfehle, als Erstes Vassilakis, als Zweites Fittons "Minoer" zu lesen.

[Eine sehr detaillierte Besprechung des englischen Originals findet sich beim Hellenic Bookservice]

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