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Colin F. Macdonald, Knossos

The Folio Society, 2005 [@folio, Website der British School at Athens]

Es gibt ein neues Buch über Knossos. Noch eines?

Die Antwort lautet: ja, und es ist nicht noch eines, sondern das Buch über Knossos, das sich zu lesen lohnt, wer - wie ich - dem minoischen Zentrum einen vertiefenden, zweiten Besuch abstatten möchte.

Macdonald (ich hoffe jedenfalls, das stimmt) ist der heutige Ausgräber von Knossos und gehört der "British School at Athens" an, ist somit Nachfolger von Arthur Evans, dem urspünglichen Ausgräber von Knossos um 1900. Wer sich daran gewöhnt hat, die Restaurierungen im normalerweise touristenüberfluteten Knossos als "minoisches Disneyland in Beton" zu verachten, wird erstaunt sein, mit welcher Behutsamkeit Macdonald mit seinem Vorgänger und Übervater umgeht. Wann immer er feststellt, dass die eine oder andere Meinung Evans' heute nicht mehr haltbar ist, verbindet er dies mit betonter Hochachtung vor dessen grundsätzlicher Leistung.

Das nobel ausgestattete Buch ist insgesamt für einen vorgebildeten Laien wie mich sehr gut lesbar. Macdonald stellt den Palast von Knossos als ein vierdimensionales Gebilde dar: zwei Dimensionen sind auf jeder Karte abgedruckt, allerdings ist der dem Buch beigelegte Faltplan von Theodor Fyfe um eine Klasse besser und der Autor beschreibt alle Bereiche des Palastes sehr plastisch, auch die, die man als Tourist nicht zu Gesicht bekommt. Die dritte Dimension der verschiedenen Stockwerke wird ebenfalls beschrieben, und das Buch enthält auch von einigen Bereichen Pläne der vermuteten Struktur der Obergeschosse. Besonders beeindruckt hat mich die Darstellung der vierten, zeitlichen Dimension. Es gelingt dem Autor erfolgreich, darzustellen, wie sich die Funktion verschiedener Teile des Kollossalbaus im Lauf der Zeit immer wieder verändert hat, wann welche Teile anders aufgebaut oder genutzt wurden.

So komplex sich das anhört, so einfach beschreibt Macdonald diese Veränderungen. Für das Verständnis dessen, was man da als mit Beton angereicherten Steinhaufen vor sich sieht, hilft es ungemein.

Wenn es etwas gibt, womit ich Schwierigkeiten hatte, dann ist es seine selbstverständliche Verwendung der von Evans herstammenden zeitlichen Schemata "LM I B" einerseits, Vor-, Früh-, Spät- und Nachpalastzeit andererseits, die zwar in einer Zeittafel ausgewiesen, aber nicht weiter motiviert sondern einfach vorausgesetzt werden. Hier ist Macdonald Teil einer Sprachgemeinschaft von Eingeweihten, die sich nicht mehr zu rechtfertigen braucht. (Ich finde das insbesondere deshalb auffallend, weil er im Einzelnen beschreibt, wie mehr oder weniger grosse Teile des Palastes zwischen 1900 v.Chr. und 1300 v.Chr. quasi im 50-Jahres-Rhythmus zusammenfielen und neu errichtet wurden)

Ist alles wahr, was Macdonald schreibt? Ich weiss es nicht. Er ist kein Freund wilder Theorien (wie der von Wunderlich), und bleibt dem mainstream der archäologischen Deutung sehr nahe (oder könnte man sagen: er ist der mainstream?). Aber er ist sympathisch in seiner Zurückhaltung von Meinung, dort wo er nicht sicher ist, und er ist sicher, dass weitere Forschung seine heutige Meinung verändern wird. Und in jedem Fall ist seine Darstellung so solide und abgesichert, wie man sich das nur wünschen kann.

Bewertung: Kaum erschienen, ist dieses Buch bereits jetzt ein Klassiker und für jeden ernsthaft an Knossos Interessierten ein Muss.

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